CHILI - EINE GESCHICHTE
Die Zunge brennt.
Feuerzangen spannen die Zunge in einen heißen, unnachgiebigen Griff.
Die Zunge
brennt vor Schärfe. Das Einatmen eröffnet dem Schmerz einen Weg in die Nase zu
gelangen, er zieht bis in die Augen, denn die fangen sofort an zu tränen. Während
ich nach einem Taschentuch durch diesen verschwommen Blick suche, frisst sich
die Schärfe in meine Nerven. Dein Chili war nie scharf genug für dich.
Ich nehme
freiwillig noch einen Löffel von meinem Teller und schiebe ihn entschlossen in
den Mund. Ich zwinge mich die Schärfe aufzunehmen, deine Schärfe. Die Tapete,
die einmal in den 90er-Jahren modern war – eine mit mintgrün und lila Streifen
– verquirlt zu einem fantastischen bunten Farbklecks, der irgendwie heiß
schmeckt. Ich lege den Löffel in den Topf, kneife die Augen zu, lehne meinen
Kopf an die kalte Wand neben mir und wische mir die Chilitränen aus dem
Gesicht.
Dein Chili war
niemals genug für dich. Ich war niemals genug für dich. Die Wand dämpft die
Hitze meiner Wangen, meiner Stirn und ich erinnere mich daran, dass ich zum
Kino verabredet bin. Ich greife nach dem Glas Milch, das neben dem Topf steht,
und denke, es sieht aus, als sei darin Wasser, das vor Schärfe verschwommen und
milchig geworden ist. Ich glaube, du sagtest, Milch tötet den Schmerz.
Später sitze ich
im Kino und warte darauf, dass die Leuchtstreifen um mich herum verglimmen,
dunkler werden, Anonymität bringen. Im Kino bin ich eine Fremde neben Fremden
und nicht einmal der Blick von der Leinwand kann mich erkennen. Das Kino tut mir
heute nicht besonders gut. Vielleicht verquirlt sich gerade auch noch die Milch
mit den Resten des Chilis im Magen. Ich stelle mir das vor wie ein Kampf von
Gut gegen Böse, die weiße Flüssigkeit darf sich natürlich den Orden des Guten
umhängen, die rot-brodelnde Masse ist gemein, ist das Böses. Nein. Das ist
langweilig. Ich entscheide mich um, es ist ein Kampf von Böse gegen Gut, die
Milch ist böse, man kann sie nicht durchschauen, das Chili ist kräftig, ist
stark und leidenschaftlich und ist…
…die Lichter
verschwinden. Die Kinowerbung spricht von Handys, die ausgestellt werden
sollen, und von Eiskonfekt, das man sich noch an der Theke holen kann. Beides
finde ich irgendwie witzig. Mein Magen grummelt, als hätte sich darin ein Handy
versteckt, und der Gedanke an Eiskonfekt lässt meine Zunge brennen.
Meine Zunge
sticht immer noch. Drei Tage, nachdem ich das letzte Mal Chili gegessen habe.
Es scheint als ob ich die Schärfe nicht loswerde. Das letzte Mal, dass ich mit
dir geredet habe, war nach dem Kino. Du sahst blasser aus als sonst. Du liefst
neben mir, hast mir schon beim Verlassen des Kinosaals die schwere Tür
aufgehalten und mich auf die Stufe hingewiesen, die mich sonst immer zum
Stolpern gebracht hat. Beinahe nur bin ich also gestolpert, hielt mich kurz an
dir fest, aber du wirktest zu zerbrechlich, um mein Gewicht an deines zu
hängen. Wir wären ja doch nur beide abgestürzt.
Weißt du noch?
hast du mich gefragt und dabei auf das Werbeplakat mit den halbverfallenen
Ruinen, dem aufbrausenden Meer und diesem einzigartigen, satten Grün im
Vordergrund gezeigt. Das Plakat hielt zwei Miniaturmenschen gefangen, die mit
Rucksack und Landkarte ausgestattet in das Grün aufbrechen, sich dem Meer
zudrehen, die Ruinen säumen pittoresk ihren Weg. Einer der Miniaturmenschen hat
seine Kamera umhängen, so, als ob man tatsächlich das Reisen in ein anderes
Land nur durch eine Linse festhalten könnte.
Weißt du noch?
Ich weiß nur,
dass dir dein Chili nie scharf genug war.
Und da war er
wieder, dieser Geschmack. Dieses Brennen. Ein Ziehen auf der Zunge, die
Geschmacksnerven wussten nicht mehr, ob sie heiß oder kalt, scharf oder süß
angeben sollten. Ein Durcheinander. Und ich stehe vor dem Popcorn, atme den
süßen Maisduft ein und traue mich nicht, mir die Erinnerung an diesen Geschmack
zu verderben. Das zweite Mal schon begleitest du mich aus dem Kino. Die Zunge
brennt nicht mehr so sehr, es ist ja auch schon fünf Tage her, seitdem ich das
letzte Mal Chili gegessen habe. Du hältst mir die Türe auf, weist auf die Stufe
hin und verstummst. Das Plakat ist nicht mehr da. Ich möchte deinen Namen
sagen, doch er fällt mir nicht mehr ein.
17 Tage ohne
Chili. Und ich bin sauer auf dich. Weil du dich dieses Mal in den bequemen
Sessel neben mich gesetzt hast. Weil du mit mir auf dieselbe Leinwand gestarrt
hast. Du hast sogar die Beine übereinander geschlagen, die Arme verschränkt,
eine klarere Abwehrhaltung hättest du dem großen Bild nicht entgegenbringen
können. Und von der Seite betrachtet sahst du aus, als ob du jede Sekunde etwas
sagen wolltest. Eine Bemerkung vielleicht? Oder täuscht dein Kopf nur eine
Verneinung an, eine generelle Unzufriedenheit mit dem Lauf der Dinge? Das
Unbekannte wurde plötzlich zum bekannten Hier und Jetzt und ich habe mich
ertappt gefühlt. Dass ich hier so sitze und es genieße. Ohne dich. Und nun bin
ich sauer auf dich, aber das feine Brennen auf meiner Zunge lässt mich meine
Wutwörter hinunterschlucken.
Ich habe dein
Gesicht vergessen. Und das, obwohl ich dich doch mittlerweile jeden Tag sehe.
Ich sehe nur deine Hände vor mir, diese unüblich kleine Männerhand, mit diesen
kurzen Fingern, die alles festhalten, was sie zu fassen bekommen, aus Angst
vielleicht, dass sie zu schwach sind, um das festzuhalten, was dir wichtig ist.
Es müssen dir schon einige Dinge aus den Händen gerutscht sein. Deine Hände
sind sogar zu klein, um einen Fußball in einer Hand zu halten. Das hast du mir
einmal gesagt. Dabei gelacht. Ich fand es nicht lustig. Du hast gleichzeitig
meinen Kopf festgehalten, den Fußball daran demonstriert und es tat weh.
Ich löffele den
Rest des Chilis in meinen Mund und bin ein wenig dankbar für die Schärfe, für
das Wiederkehren des Geschmacks. Ich habe schon eine Weile angefangen das
Undefinierbare zu mögen. Manchmal halte ich meine Hand so lange unter heißes
Wasser, bis ich nicht mehr weiß, ob ich nicht versehentlich den blau
gekennzeichneten Hahn aufgedreht habe. Und als ich das letzte Mal aus dem
Kinosaal kam, da nahmst du meine Hand, hast sie fest gedrückt, du hast die
Spuren der Verbrennung noch gesehen, hast sie vielleicht sogar gefühlt. Aber
ich stolperte über die kleine Stufe und du hast losgelassen. Du musst mich
hassen.
Du sagst immer,
warum fällt es dir so schwer, das Chili richtig zu würzen?
Ich mag es
scharf, hörst du? Scharf.
Jedes Mal stehe
ich auf, gehe langsam um den Tisch herum, nehme deinen Teller mit in die Küche
und überlege mir für einen Bruchteil einer Sekunde, ob ich statt der
Tabascosoße nicht lieber Rattengift hineinstreuen sollte. Doch du bist
schneller.
Im letzten Monat
habe ich kein Chili gegessen. Ich bin auch nicht mehr ins Kino gegangen. Die
Dunkelheit hüllte mich nicht mehr in Schweigen, nicht mehr in Anonymität. Ich
konnte plötzlich am allerdeutlichsten den kratzigen Stoff des Sitzes unter
meinen Oberschenkel spüren, blieb mit meinen Turnschuhen am klebrigen Boden
hängen, jedes Mal, wenn ich versuchte, meine Position zu ändern, und ich fühlte
den Atem meiner Sitznachbarn auf meiner Haut. Ich erschrak jedes Mal, wenn mein
Arm auf der Armlehne von einem anderen Arm berührt wurde. Ich verließ den Saal,
bevor klar war, ob der Held seine Liebe retten würde.
Ich bringe den
Teller wieder aus der Küche und stelle vorsorglich die scharfe Soße daneben.
Dann setze ich mich und wie immer schüttest du das rote Mittel auf deinen
Löffel. Einen Tropfen pro Chililöffel. Ich verweigere das Essen. Doch du nimmst
die Soße in deine kurzfingrige Hand und zwanzig Tropfen fallen auf meinen
Teller. Mehr als das Chili an Löffel hergibt. Ich schüttele den Kopf und weiß,
dass du es dabei nicht belassen wirst. Du nimmst meinen Löffel, schiebst ihn
unter das Chili, verührst das Tabasco und bietest ihn mir an. Ich möchte das
Chili nicht essen. Dein Chili ist nie scharf genug für dich, meines ist mir
immer zu scharf.
Danach versuche
ich mich mit Milch zu betrinken. Doch das Brennen will nicht aufhören, im
Gegenteil. Die Zunge hängt in Fetzen aus meinen Mundwinkeln, ich spüre die
einzelnen Fäden, wie sie lose an meiner Unterlippe baumeln, so, als ob sie sich
einen Spaß daraus machten, mich auch noch, zu allem Überfluss, zu kitzeln. Ich
muss grinsen, aber ich befürchte, das Grinsen hat seinen Charme verloren, denn
du schaust mich an, nur um angesichts der schreienden Grässlichkeit, meiner
Grässlichkeit, mir die Milch ins Gesicht zu schütten. Die weiße Flüssigkeit
hangelt sich durch die Fäden und tropft und rinnt und fällt aus meinem Gesicht.
Sie fällt zu Boden und rollt weg. Ich hasse dich, aber ich habe deinen Namen
vergessen. Ich habe deinen Namen vergessen und kann dich deswegen nicht
anschreien, kann dem Schmerz in meinem Inneren keinen Platz geben, sich
auszudehnen, um über die Zungenspitzen hinweg zu rollen. Ich schreie.
Vielleicht auch nicht. Ich glaube, ich bin wahnsinnig. So wahnsinnig, dass ich
dir den Löffel aus deiner verdutzten Hand reiße und versuche, deine Augen zu
treffen. Das Brennen in meinem Mund und die Explosion in meinem Zwerchfell sind
Treibstoff für meine Arme, die Lippen werden durch die Spucke, die ohne
Zungenbarriere viel leichter aus meinem Mund quillt, kurioserweise beruhigt.
Oder kommt das von der Flüssigkeit, die mir aus deinem Gesicht entgegenspritzt?
Ich kann sie nicht erkennen, denn meine Geschmacksnerven sind ruiniert. Ist das
Salz? Bitterstoffe?
Als ich aufwache,
mit einem Teller Chili vor mir, einem Glas Milch neben mir, und du auf dem
Boden, da weiß ich es. Heute bin ich zum Kino verabredet.
Veröffentlicht in [Lautschrift] #3. April 2013.
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